Abstract
Die Frage nach der "poetischen Idee" einer musikalischen Komposition,
die die Beethoven-Forschung und -Rezeption seit langem beschäftigt, läßt sich als Frage
nach den Orientierungspunkten begreifen, die die produktive Einbildungskraft Beethovens
im künstlerischen Schaffensprozeß geleitet und gestützt haben. Die Unbestimmtheit des
Begriffs macht dabei seinen Reiz aus: Ist mit "poetischer Idee" eine Formidee gemeint,
welche die einzelnen musikalischen Themen und Motive zueinander in Beziehung setzt und
organisch aufeinander abstimmt? Oder zielt der Begriff auf ein inhaltliches Programm, an
welches der Komponist gedacht hat, als er an seinem Werk arbeitete? Bezeichnet er das
Ganze einer Komposition oder zumindest wesentliche Teile daraus, oder bezieht er sich
bloß auf einen einzelnen Einfall? Ist der Inhalt der "poetischen Idee" eines Werkes so
konkret, daß er eine unzweideutige Lesart nahelegt, oder ist er im Gegenteil von einer
Offenheit und Mehrdeutigkeit, die es dem Hörer freistellt, aus der Rezeption des Werkes
heraus einen eigenen freien "train of thought" (Archibald Alison) zu entwickeln? Die
Fragen zeigen, daß eine eindeutige Definition der "poetischen Idee", über die Beethoven
selbst sich angeblich im Freundeskreis geäußert haben soll, schwierig und auch
fragwürdig ist. Man kann jedoch - anstatt dem Begriff wie einem Gespenst, daß man doch
nicht zu fassen bekommt, hinterherzujagen, - zeitgenössische ästhetische Definitionen
benennen, die Ansätze für die Beantwortung der Fragen enthalten, die der Begriff der
"poetischen Idee" herausfordert.