Abstract
Die Möglichkeiten, musikalisch zu fragen, sind zahlreich. Doch hat
nur eine bestimmte Kadenz mit ihren Varianten so viel Wiedererkennungswert, dass sie
auch als untextiertes Motiv zum Kern eines "musikalischen Topos" werden konnte: Die im
Idealfall über dem fallenden Halbton im Bass gebildete Kadenz, unter dem Namen
"phrygische Wendung" bekannt, gehört zu dem Kanon altertümelnder Motive, die in der
Musik des 19. Jhs. eine Renaissance erfuhren. Allerdings verweisen die Fragetopoi des
19. Jhs. auf eine musikalische Vergangenheit, die in solcher Idealisierung nicht real,
sondern Teil einer romantischen Fiktion ist. Ausgehend vom Fragetopos bei Wagner
vollzieht die Arbeit die musikgeschichtlichen Ausgangsbedingungen wissenschaftlich nach.
Der erste Teil der Studie arbeitet die musikalische Konvention auf, die als Vorlage für
den Fragetopos diente. An Beispielen aus der Musik vor 1800 wird gezeigt, in welcher
Form die musikalische Frage als Motiv etabliert war, was für ihre Inszenierung im
musikalischen Zusammenhang typisch ist, und welche semantischen Konnotationen auch bei
der untextierten Formel vorauszusetzen sind. Der zweite Teil verdeutlicht den
qualitativen Umschlag von der historisch eindimensionalen Frageformel zum Fragetopos. In
Analysen untextierter Fragetopoi bei Beethoven, Mendelssohn und Wagner wird die Frage
als ein Phänomen beschrieben, das sich im Spannungsfeld von musikalischem Historismus
und einem sich wandelnden Kadenzverständnis bewegt. Neben einer Klärung dessen, was die
aus der Literaturwissenschaft entlehnte Toposforschung in der Musikwissenschaft leisten
kann, vermittelt die Arbeit anschaulich zwischen der Vogelperspektive
musikphilosophischer Entwürfe und der akribischen Analyse satztechnischer
Details.