Abstract
Johann Sebastian Bachs Werke für Melodieinstrumente sind einzigartige
Zeugnisse einer – trotz der radikalen Beschränkung klanglicher Mittel – über jeden
Akademismus erhabenen polyphonen Kunst. Um einem einzigen Melodieinstrument eine
Vollstimmigkeit abzugewinnen, die sonst dem Klavier, der Orgel oder einem Ensemble
mehrerer Instrumente vorbehalten ist, bedarf es einer souveränen Beherrschung
entsprechender kompositorischer Verfahren. Bach hat die kunstvollen Techniken
mehrstimmigen Satzes, die er einer lebendigen Tradition entnehmen konnte, systematisch
ausgebaut und auf eine neue Höhe geführt. Seine Solowerke haben nicht erst der
Avantgarde des 20. Jahrhunderts Anregungen vermittelt, sondern galten von Anfang an als
vorbildhaft. Diese Techniken der latenten und manifesten Mehrstimmigkeit werden hier
erstmals im Zusammenhang beschrieben. Der Analyseansatz resultiert aus der
Auseinandersetzung mit der Musiktheorie der Bach-Zeit, mit der energetischen
Analysemethode Ernst Kurths und mit neuen Erkenntnissen der Wahrnehmungspsychologie,
besonders der Stream-Theorie (Auditory Stream Segregation Theory). Aus den Ergebnissen
der Satzanalyse sowie der Stil- und Quellenkritik ergeben sich neue Aspekte für die
Chronologie der solistischen Kammermusik Bachs.